Geschichtliche Entwicklung Mössingens
Teil 3: Industrialisierung, Generalstreik und Wirtschaftsaufschwung
Um Sie während des Jubiläumsjahres auf dem Laufenden zu halten, berichten wir monatlich zur Geschichte, zu Veranstaltungen oder auch Kurioses über Mössingen.
Mit der Eisenbahn kam die Industrie. Mit dem Anschluss an das württembergische Eisenbahnnetz 1869 erfuhr der Ort einen Industrialisierungsschub. 1871 gründete die Bönnigheimer Nähgarnspinnerei Amann & Söhne einen Filialbetrieb in Mössingen. Als Amann 1920 schloss, wurden die Fabrikgebäude fünf Jahre später von der Trikotagefabrik Merz aus Tailfingen übernommen. Ebenfalls Anfang der 1870er-Jahre begann Johann Georg Hummel den Betrieb einer Mechanischen Buntweberei, die 1895 von Ungerer und Dietrich, 1904 von Bernheim & Söhne weitergeführt wurde. 1919 kauften die Stuttgarter Brüder Artur und Felix Löwenstein den Betrieb und begründeten die Firma Pausa. Neben der Buntweberei führten sie den Stoffdruck ein. Die kreative Zusammenarbeit mit Künstlern und Entwerfern aus den Wiener Werkstätten, dem Werkbund und dem Bauhaus brachte der Firma internationalen Erfolg. Als [MS1] 1901 eine Niederlassung der Pfullinger Weberei Burkhardt gegründet wurde, waren allein in den drei großen Textilfabriken [MS2] 439 Beschäftigte tätig.
Linkes Arbeiter- und Bauerndorf. Doch die Industrie brachte keinen Wohlstand. Die Textilbetriebe zahlten niedrige Löhne und beschäftigten überwiegend Frauen. Viele Männer pendelten zur besser bezahlten Lohnarbeit nach Hechingen oder Reutlingen. Die Handwerker im Dorf wirtschafteten in der Regel im Ein-Mann-Betrieb. Nach der Arbeit ging es noch in die Nebenerwerbslandwirtschaft. In den bescheidenen Lebensverhältnissen wählten [MS3] vor dem Ersten Weltkrieg 42% der Mössingen SPD. In der Weimarer Republik wurde die KPD zur wichtigen Partei im Dorf (etwa 25% RT[MS4] -Wahlen). Die drei Arbeitervereine (Turner, Radfahrer und Sänger) prägten eine linke Arbeiterkultur rundum die 1925 erbaute Turnhalle in der Langen Gasse.
Mössinger Generalstreik. Die Turnhalle war am 31. Januar 1933 der Ausgangspunkt für den berühmten Generalstreik[MS5] gegen die am Vortag erfolgte Machtübernahme Hitlers. Die KPD hatte reichsweit zum Streik aufgerufen, doch es blieb weitestgehend ruhig. In Mössingen demonstrierten dagegen 800 Personen und versuchten die drei großen Textilfabriken lahmzulegen. In der Firma Pausa stimmten die Arbeiter für den Streik. Die jüdischen Firmeneigentümer Löwenstein gaben den Beschäftigten frei und unterstützten die Aktion. Im zweiten Betrieb, der Trikotagefabrik Merz, in den die Streikenden eindrangen und zur Teilnahme aufriefen, alarmierte der Unternehmer Merz die Polizei. Bei der Buntweberei Burkhardt standen die Streikenden vor verschlossenen Türen. [MS6] Beim Rückmarsch in den Ort wurde der Streikzug von der Reutlinger Polizei aufgelöst. 80 Personen wurden wegen Hochverrats und Landfriedensbruch zu Strafen von drei Monaten bis viereinhalb Jahren verurteilt. Das NS-Regime gewann weiter an Macht. [MS7] 1936 wurde die von den jüdischen Löwensteins geführte Pausa „arisiert“. Die Familien Löwenstein flohen nach England.
Bauboom und Wirtschaftsaufschwung. Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs das 4.500 Einwohner zählende Mössingen durch den Zuzug von knapp 900 Flüchtlingen und Vertriebenen sprunghaft an. Neue Wohngebiete wie etwa das ab 1960 gebaute Bästenhardt entstanden. 1952 öffnete das heute noch bestehende Kino Lichtspiele seine Türen. Auch die Textilwirtschaft boomte. Neben den Firmen Merz, Pausa und Burkhardt produzierten seit 1938 die Firma Mehl Frottierwaren, die Firma Wagner in Belsen Sportbekleidung und seit 1946 die in Öschingen gegründete und ab 1959 in Mössingen ansässige Firma Merk Hemden und Berufsbekleidung. Vor allem die Pausa mit dem Verkaufsprodukt an modernen Dekorationsstoffen stand für die „goldenen Fünfziger“. Der seit Mitte der 1930er-Jahre als künstlerischer Leiter tätige Willy Häussler wurde 1958 der neue Firmenchef. Seine Verbindungen zu erstklassigen Künstlern und Entwerfern wie Willi Baumeister, HAP Grieshaber, Elsbeth Kupferoth, Walter Matysiak und Leo Wollner ließen die Firma an die Erfolge der Löwensteins anknüpfen. Auch Talente wie Andreas Felger, der als 14jähriger Lehrling zur Pausa kam, wurden von ihm entdeckt und gefördert. Für den Firmenneubau (1951-1961) gewann Häussler den später[MS8] berühmten Architekten Manfred Lehmbruck.